Europa hat uns wieder! So schien es zumindest, als wir mit der Transsibirischen Eisenbahn in den klassizistischen Bahnhof von Irkutsk einfuhren. Tagelang war der Zug in Richtung Osten durch die sibirische Ebene gebummelt, vorbei an den Ausläufern der Taiga, vorbei an riesigen Feldern und kleinen Weilern mit gedrungenen Holzhäusern, durch unbekannte Städte mit endlosen Industriebrachen, über majestätisch breite Flüsse. In den Waggons hatte sich wodkageschwängerte Fröhlichkeit breit gemacht. Über allem hing der Geruch von getrockneter Plötze, einem eurasischen Karpfen, die mit bloßen Händen im Abteil zerlegt und vertilgt wurde. Die Zeit ging darüber verloren. Blieb allein die Sorge, dass der Wodka ausgehen könnte. Sie war unbegründet. Erst am Bahnhof von Irkutsk fanden wir - noch benommen - zurück in die Welt, zurück zu Zeit- und Formgefühl.
Das imposante Bahnhofsgebäude, beladen mit Säulen und klassischen Giebeln, gekrönt von einer Uhr, könnte auch in Mailand oder München stehen. Wir aber befinden uns rund 600 Kilometer nördlich von Ulan-Bator. Auf der Straße fahren Autos mit dem Steuer auf der rechten Seite, es sind Gebrauchtwagen aus Japan. Ein Bus der Marke Asia Motors bringt uns ins Hotel. Vorbei an Denkmälern im römisch-antiken Stil, orthodoxen Kirchen, europäischen Plätzen. Gleich nach der Ankunft im Inturist drängt man unter die Dusche, die leider eiskalt ist. Nach hartnäckigen Bitten stellt eine missvergnügte Etagenfrau das Warmwasser an. Den eigenen Restverdruss kann man in einer der Etagenbars herunterspülen. Zur Auswahl stehen: Seoul, Berlin und auch Gabriella.
Glücksritter und Kaufleute machten Irkutsk einst reich
Anton Tschechow befand auf einer Reise nach Irkutsk enthusiastisch: "Ganz und gar Europa." Wer heute länger in Irkutsk verweilt, wird sich wohl eher Jules Vernes Eindruck anschließen: "Ein riesiges Lager verschiedener Waren, mit denen China, Zentralasien und Europa handeln." In Irkutsk begreift man, was es mit "Eurasien", dem Lieblingswort russischer Geopolitiker, auf sich hat. Die Stadt ist ein Vorposten Europas in Asien, eine russische Kolonialgründung, für die die Ostsee unerreichbar im Westen liegt. Aber ein Irkutsker muss nicht 7000 Kilometer reisen, um sich im Abglanz des Westens zu sonnen. Die Stadt hat dafür ihre großzügige Uferpromenade.
Die jungen Irkutsker verbringen die langen Abende des kurzen Sommers auf der Gagarinstraße entlang der Angara. Ein Zeltcafé reiht sich ans andere, einige Plastikstühle vom Typ Rimini Relax sind noch frei. Wem das Bier im Café zu teuer ist, sitzt mit einer Flasche in der Hand auf der Ufermauer oder in asiatischer Hocke auf dem Trottoir.
Am Ufer stehen Billardtische; Stereoanlagen konkurrieren quäkend miteinander, West-Techno wechselt sich mit Russisch-HipHop ab. Unter riesigen Lärchen hat ein findiger Wirt eine Spontandisco auf dem Asphalt aufgezogen. Dort hopsen blonde Sibirierinnen auf hochhackigen weißen Sandaletten, bis die Knöchel brechen. Weiße Schuhe mit dicken Sohlen stehen derzeit hoch im Kurs in Sibirien, dazu trägt man wie in Moskau Schwarzes und Knappes. Die Aussicht ist bestens. Hinter der Asphaltdisco erhebt sich das Weiße Haus, der säulenschwere Gouverneurspalast aus dem frühen 19. Jahrhundert, in dem heute die Universitätsbibliothek untergebracht ist. Der Prachtbau bringt einen Hauch von London auf die Gagarinstraße. Einen Steinwurf entfernt steht das ehemalige Gebäude der Kaiserlich-Russischen Geographischen Gesellschaft, in der europäische Naturwissenschaftler, darunter Alexander von Humboldt, Sibirien erforschten. Das neobarocke Stadttheater liegt an der nahe gelegenen Hauptstraße von Irkutsk, die den Namen eines Europäers namens Marx trägt. Ein deutschstämmiger Architekt hat das Theater vor hundert Jahren erbaut.
Reisende im vergangenen Jahrhundert staunten, als sie in Irkutsk "Weine und andere Luxusgüter Europas zu sehr moderaten Preisen angeboten" sahen. Glücksritter und Kaufleute, beim Goldgraben oder im Pelzhandel reich geworden, stürzten damals auf brodelnden Festen den besten französischen Champagner wie Wasser hinunter und übergossen ihre Frauen mit Kübeln erlesenen Parfums. Heute ist derlei Wohlgeruch längst verflogen, aber für die neuen Irkutsker hat auf der Karl-Marx-Straße immerhin ein glitzerndes Juweliergeschäft eröffnet. Ein knüppelbewehrter Wächter davor achtet darauf, dass kein Lada-Fahrer einem Mercedes den Parkplatz wegschnappt. Der solchermaßen geschützte Boulevard täuscht europäisches Flair vor, solange man sich nicht in die verfallenen Hinterhöfe verirrt. Dort wohnen viele Menschen noch immer in kommunalkas, den sowjetischen Wohngemeinschaften. In den Seitenstraßen zum Boulevard stehen zweistöckige sibirische Holzhäuser, die den großen Brand von 1879 überdauert haben. Heute wohnen meist Arme in den baufälligen Häusern.
Ursprünglich waren es stolze Stadtvillen. Ein ganzes Anwesen aus Holz hatten sich die Wolkonskijs erbaut. Fürst Sergej Wolkonskij gehörte zu den Verschwörern im republikanischen Dekabristenaufstand gegen den Zaren 1825. Er wurde zu Zwangsarbeit und Exil in Sibirien verurteilt, seine Frau Maria folgte ihm. Sie machte das Wohnhaus mit Literatur- und Musikabenden zum Zentrum des kulturellen Lebens in Irkutsk. Heute ist es ein Museum. Der Besucher schleicht andächtig über die Holzbohlen, um Maria Wolkonskajas Toilettentisch und den Federkiel des Fürsten zu bewundern. Und um über Sibiriens kulturelle Grundlagen nachzudenken. Die Hälfte der Bevölkerung sind Nachkommen der Verbannten, der Aussätzigen des Imperiums. Das prägt das sibirische Sonderbewusstsein. Und auch den Stolz. "Wir sind doch anders als ihr Europäer", sagt eine junge Studentin, die Deutschland besucht hat. "Wir kennen eure Enge nicht, euer krampfhaftes Bemühen, Grünzonen zwischen den Autobahnen anzulegen, weil sonst alles zubetoniert ist."
Irkutsker haben gut reden. Nördlich der Stadt beginnt die Taiga, nur zwei Magistralen führen nach Westen. Die Ausfallstraße nach Süden wurde vor gut 40 Jahren gebaut, als die Sowjets General Eisenhower an den Baikalsee laden wollten. Eisenhower kam nie, aber immerhin gibt es nun eine Straße an den größten und ältesten Süßwassersee der Welt. Der Baikal strotzt vor Superlativen: 1637 Meter tief, 636 Kilometer lang und bis zu 80 Kilometer breit. Und er wächst im Gegensatz zu den meisten Seen der Erde.
Als wir ihn sehen, liegt er im Nebel: rätselhaft, geheimnisumwittert und doch ziemlich trübe. Etwas missmutig besteigen wir ein Boot und schauen erst einmal, wie es unter Deck aussieht. Doch kaum haben wir begonnen, die Getränkeauswahl zu würdigen, ruft oben jemand etwas von Sonnenstrahlen. Wie in einer Theaterinszenierung vergeht der Nebel. Die Berge am Ufer schälen sich aus dem Dunst. Der See liegt ganz still und spiegelt die Sonne. Wir sind bis zum Horizont allein auf dem Wasser. Bis zum Abend kommt uns kein Boot entgegen.
Das geht nur in Sibirien. Man stelle sich den Baikal in Europa vor: Der See wäre ein viel besuchtes Ferien-"Resort" mit Sporthotels und active vacation facilities, Golfplatz, Surfbasis, Rennboothafen und Bungee-Jumping-Turm. In Sibirien ist der See nur See, an seinem Rande ragen Steilufer auf mit Lärchen, Kiefern, Birken, Mooshängen oder nackten Felsen - so weit die Brille reicht. Es passiert nichts, das ist das eigentliche Ereignis. Und wen das auf die Dauer langweilt, kann anlegen und Vorstöße in die Uferzivilisation wagen. An einem der 336 Flüsse, die in den Baikal fließen, wandern wir hoch in ein Ferienlager. Ein paar Holzhäuser stehen am Hang, Zelte sind säuberlich aufgereiht, der Treffpunkt aller ist die banja, das Dampfbad. Fluchtpunkt ist ein Holzklo am Rande der Siedlung, das man findet, wenn man an einem stillgelegten ukrainischen Automobil rechts abbiegt. Zwischen den Zelten steht ein kleines Gasthaus.
Im Winter türmt sich das Eis zu gewaltigen Schollen auf
Die Speisekarte beherrscht der Omul, ein in ganz Russland gerühmter Baikalfisch. Als Appetithappen essen wir Omul geräuchert und in Salzlake, als Vorspeise Omul in Bouillon, als Hauptgericht Omul gedünstet im Kartoffelmassiv, nur als Dessert fiel dem Chef de Cuisine an diesem Tag keine Omul-Variante ein. Daher gibt es nur Konfekt. Zum Essen wird Moosbeerensaft gereicht und Wodka hinuntergestürzt. Wir trinken einen in der Fabrik destillierten. Besser sei jedoch der Baikalskij samogon, der Selbstgebrannte, klärt ein Gastgeber auf: Man kaufe Spiritus in der Apotheke und mixe ihn im Verhältnis von 40 : 60 mit dem köstlichen Baikalwasser - und fertig ist der Drink. Wir bedauern, dass wir keinen Spiritus dabeihaben, und ziehen uns nach einem letzten Toast auf unser Boot zurück.
Das Wetter ist immer noch prächtig, ein leichtes Lüftchen geht, wir schlürfen auf Deck unseren Tee, derweil in der Ferne die Bergspitzen des Chan-Ula-Massivs aufleuchten. Das allgemeine Wohlbefinden nimmt ein Begleiter zum Anlass zu erzählen, wie schauderhaft es ist, wenn Sturmwolken über den Baikal ziehen. Sechs hinterhältige Winde machen dem Menschen zu schaffen auf dem Baikal. "Werchownik, Bargusin, Kutluk, Gornaja, Sarma, Selenga", zählt sie der Begleiter auf. "Sie blasen überraschend aus den Gebirgsschluchten um den See und können sich in kurzer Zeit zum Sturm ausweiten. Bis zu sechs Meter hohe Wellen fegen dann über den See. Jedes Jahr gehen Schiffe unter."
Baikalanwohner erzählen noch heute mit Grauen von der größten Katastrophe 1901: Damals zerschellte der Dampfer Potapow an den Stutenkopf-Felsen, 176 Menschen kamen um. Der Sturm schleuderte die Leichen über zwanzig Meter hoch, wo sie im Eiswind am Felsen festfroren.
Am sichersten ist der Baikal, wenn er mit einer festen Eisdecke überzogen ist. Ab November friert der lang gestreckte See von Norden zu. Die Schollen türmen sich haushoch auf. Der Baikal vereint im Winter den bewohnten Teil Sibiriens, den er im Sommer in Ost und West teilt. Autos, Lastwagen und Pferdeschlitten fahren über das Eis, Verkehrsschilder werden aufgestellt, damit sich niemand in der gefrorenen Wüste verfährt oder in Gegenden gerät, wo das Eis dünner ist. Heikel sind die mitunter meterbreiten Spalten, die sich über wärmeren Strömungen auftun. Deshalb vermeiden es Einheimische, nachts zu fahren. Wer es bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht zum Ufer schafft, übernachtet im Auto auf dem See. Das ist sicherer, vorausgesetzt, man hat genügend Decken dabei. Denn die Temperatur könne nachts auf minus 35 bis 40 Grad sinken, erzählt unser Begleiter.
"Ziemlich kalt!", denken wir uns, nippen am Tee und ziehen die Pullover aus, da die Nachmittagssonne nun doch zu brennen beginnt. Der See liegt immer noch glatt wie ein Teppichboden. Langsam dampfen wir zum Anleger zurück, in das kleine Dorf Listwjanka mit ein paar Holzhäusern. Am Abend fahren wir zurück in die schönen alten Straßen von Irkutsk. Europa hat uns wieder! Wir gehen am Theater, das leider wegen Umbau geschlossen ist, vorbei ins Irkutsker Lichtspielhaus, im Jugendstil erbaut. Der stickige Saal ist bis auf den letzten Klappstuhl besetzt, man freut sich auf den neuesten Film von Nikita Michalkow: Der Barbier von Sibirien.
Der durchaus schwülstige Streifen erzählt von den Bedrohungen Russlands, die sibirische Taiga und die europäische Kultur stehen auf dem Spiel. Quell der Aggression ist Amerika. Ein Yankee-Unternehmer schickt sich an, mit einer Höllenmaschine den mythischen sibirischen Wald abzuholzen; ein Offizier der US-Armee befiehlt einem musisch veranlagten russischstämmigen Rekruten, Mozart zu verfluchen. Beide Attacken scheitern, die Kultur behält die Oberhand. Die Kontrastfiguren zu den Barbaren aus Übersee spielen schneidige Moskauer Offiziere, die aus tiefer Leidenschaft für eine kapriziöse Frau in die sibirische Zwangsarbeit gehen, andere, die sich ehrlich im Schnee schlagen, eimerweise Wodka trinken und anschließend zur Abkühlung im Eisloch baden. Da klatscht der ganze Kinosaal: Die europäische Kultur hat gesiegt. Oder doch allein die russische, vielleicht die sibirische? Wir bleiben verwirrt.
Informationen:
Veranstalter: Zum Nationalpark Baikalsee bietet Inter-Air Voss Reisen (Tel. 069/96 76 70) vom 5. bis zum 12. September eine Sonderreise für mindestens 3525 Mark an. Bei Studiosus Reisen (089/ 50 06 00) kostet eine zehntägige Studienrundreise mit einem dreitägigen Aufenthalt in Irkutsk von 4995 Mark an.
Literatur: Klaus Bednarz: Ballade vom Baikalsee, Europa Verlag, München 1998; 384 S., 39,80 DM.